bernd nicolaisen
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Bernd Nicolaisen | Restlicht
Ein Rest von Licht, flach einfallend in die hintersten Ecken tief in den Gletschern, zeichnet es eine spektakuläre Szenerie geformt aus glasklarem Eis. Hier wird das Licht gebrochen und reflektiert. Ein Spiegelkabinett der Natur. In das Eis eingeschlossen sind Luftblässchen aus der Zeit, als der isländische Wikinger Leif Eriksson diese Luft atmete. Er sollte dann der erste Europäer sein, der Fuss auf amerikanisches Festland setzte. Das war vor tausend Jahren.
Als Bernd Nicolaisen mit Hilfe des flach einfallenden Lichts der dunklen Jahreszeit tief im Inneren des Gletschers das blaue Eis fotografierte, konnte er noch nicht ahnen, dass die gleichen Stellen heute unter freiem Himmel liegen würden. Seine frühesten Fotografien aus Island sind keine 15 Jahre alt. Viele sind sogar erst 2014 entstanden. Der Begriff des “ewigen Eises” wird sich aus unserem Sprachgebrauch mit der gleichen Geschwindigkeit zurückziehen. Was bleibt sind die staunenden und ehrfürchtigen Bilder von Künstlerinnen und Künstlern, wie eben Bernd Nicolaisen, aber auch Lynn Davis, Paolo Pellegrin oder Olaf Otto Becker. Das flüchtige Medium Fotografie als letztes Reservat “des ewig Währenden”. Daher betrachten wir diese Bilder mit einer Mischung aus Faszination und Wehmut. Wir werden ergriffen von einer Melancholie und Romantik die sich aus der Einsicht von Vergänglichkeit speisst. Nicht weil Kunst Vergänglichkeit explizit zeigen kann, sondern weil wir uns im Angesicht der Bilder darüber bewusst werden.
Fotografie ist in gewisser Weise so etwas wie eine Analogie auf das Leben. Der Augenblick der Belichtung ist unser kurzer Moment in dieser Welt. Was bleibt ist das Bild, unsere Biografie. Die kann man lesen, auch nachdem wir nicht mehr sind. Trotzdem ist es “nur” ein Bild, das Erinnernde aber Nicht-Deckungsgleiche. Mit Licht geschriebene Geschichte. Ein Dokument und doch soviel mehr. Es ist eben etwas anderes, als allein der Augenblick der Blendenöffnung und das Licht der Gegenwart. Der Moment unserer Existenz. Ganz subjektiv. Mit Roland Barthes gesprochen, hat das im Foto sichtbare, “nur einmal stattgefunden: [Fotografie] wiederholt mechanisch, was sich existentiell nie mehr wird wiederholen können.” Das heisst auch, dass Fotografie nur immer Gegenwart einfangen kann, auch wenn es damit unmittelbar zur Vergangenheit wird. Fotografie kann nichts abbilden, was vor tausend Jahren geschah.
Aber sie kann tausendjähriges Eis abbilden und über den Referenten Eis eine Beziehung zu Geschichte herstellen. Die im Eis eingefrorenen Elemente sind Schnappschüsse vergangener Zeiten. Das Bild erzählt davon. Aber es ist nicht das Eis und das im Eis Eingeschlossene. Um so dringlicher mahnt das Bild vor dem Abhandenkommen dieser natürlichen Archive und “Datenbanken”. Das Abschmelzen der Gletscher beraubt uns eines Zugangs zur Geschichte, der so tragisch ist wie der Brand der Bibliothek von Alexandria. Unwiederbringliche Verluste.
Bernd Nicolaisen beschäftigt sich viel mit Dingen, die uns in Ehrfurcht innehalten lassen. In gewisser Weise hilft die Restlicht-Serie, die Dimensionen, Elemente und Prozesse zu verstehen, mit denen er sich bis heute beschäftigt. Sie erlaubt den Betrachtern einen Zugang zu dem manchmal Unvorstellbaren. Denn das was Bernd Nicolaisen in Bilder zu fassen versucht, übersteigt unseren Zeitbegriff und damit unser normales Vorstellungsvermögen. In einem anderen früheren Projekt
fotografierte er einige der ältesten Bäume unserer Gegenwart. Fast jeder Baum war gezeichnet von einem Blitzeinschlag, der diesen zumindest einmal im Laufe seiner langen Existenz ereilt haben muss. Wieder so eine Referenz zu Fotografie.
Er arbeitet aber auch schon mit Bildern der europäischen Raumfahrtbehörde, um uns die entfernte Welt des Kometen 67P/Churyumov-Gerasimenko näher zu bringen. Es ist eine ausserirdische Welt, die seit Millionen von Jahren ihre Kreise durch das Universum zeiht und nun erstmals von menschlicher Aufnahmetechnik dokumentiert wurde. Bernd Nicolaisen übersetzt für uns wissenschaftliche Bilddaten in plausible Fotografien und verarbeitet sie in einem zweiten Schritt künstlerisch weiter. Er nimmt, was kein menschliches Auge gesehen hat, und projiziert und generiert daraus eigene Bildwelten. Fotografie als Science Fiction.
Oder in seinem jüngsten Projekt, in dem Bernd Nicolaisen die ältesten Gesteinsschichten der Erdkruste fotografiert, in denen Wissenschaftler Beweise finden wollen, wonach Leben durchaus auch ohne die Existenz von Wasser entstehen kann. Das ist astrobiologisches Neuland.
In gewisser Weise relativieren die erdgeschichtlichen Dimensionen der von Bernd Nicolaisen gewählten Themen unsere heutigen Probleme. Auch wenn wir mittlerweile unser heutiges Erdzeitalter mit Anthropozän nach uns Menschen benannt haben, weil wir einen entsprechend grossen Einfluss auf den Planeten nehmen, so sind wir wohl doch eher eine Gefahr für uns selbst und die heutige Umwelt, als für die Erde. Letztere wird es auch nach uns noch geben, alle Elemente und Stoffe heutigen Lebens neu gemischt und an die neuen Bedingungen angepasst zu anderen Lebensformen entwickelt. Der Mensch wird dann nur noch in Form fossiler Abdrücke und Versteinerungen in neu aufgetürmten Gebirgen auf umgeformten Kontinenten nachweisbar sein.
Ein Virus hat uns aktuell gezeigt, wie instabil, anfällig und fragil wir als Spezies sind, wie leicht wir aus dem Gleichgewicht geraten können. Ja, wir können zwar das Klima verändern, die Vielfalt von Flora und Fauna gefährden und ganze Landstriche binnen weniger Sekunden verwüsten. Aber wir können auch selbst in kürzester Zeit von dieser Welt verschwinden, und schon in 100 Jahren wäre dann buchstäblich Gras über uns gewachsen. Noch können wir aber reagieren, können unsere Existenz auf diesem Planeten als den kosmischen Zufall begreifen, der es ist, und somit diese einzigartige Chance unseres schöpferischen Potenzial zu unserem Vorteil nutzen. Für mich steckt diese Art der Hoffnung und Ehrfurcht in Bernd Nicolaisens Bildern. In ihnen steckt auch die—bewusste oder unbewusste—Frage, wie wohl unser Planet in 1’000, 10’000 oder 100’000 Jahren aussehen mag. Lassen wir seine Fotografien also auf uns wirken und damit unserem Vorstellungsvermögen freien Lauf. — Auf die Zukunft!
(© Daniel Blochwitz, 2021)